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Kapitel 1. Levin

 

Luise stand skeptisch und unbeteiligt am Rande der Premierenfeier für einen Film dessen Drehbuch und vorausgehender Roman ihr Werk war. Man feierte etwas noch unwürdig zu Feierndes, was Luise schlicht ärgerte. Aber weder fiel das den um sich selbst kreisenden Beteiligten und bewundernden Gästen auf, noch kümmerte sie es eigentlich, dass hier gefeiert wurde. Sie zelebrierten eben, wenn es sich anbot, blendeten den Alltag aus und schalteten auf Partymodus. In dieser Betrachtung versunken merkte Luise nicht, dass sich ein Mann neben sie stellte um ihr einen Satz ins Ohr zu flüstern den sie selbst bereit war in diesem Moment denken zu können. „Die Geister die ich rief?“ drang in ihr Bewusstsein aber sie war sich nicht sicher ob zusätzlich auch ihr Wunsch in Erfüllung gehen durfte, dass jemand ihr Innerstes entdeckte bevor sie es gründlich selbst durchdacht hatte. „Entschuldigung, ich wollte sie nicht stören, aber es schien mir als würden sie das über diese Meute denken“ 

Luise drehte sich zu der Stimme um und beantwortete auch den Handschlag der ihr dargeboten wurde. Erstaunlicher Weise war das kein Reflex, sondern ein blitzartiger eigener Drang sich sofort körperlich mit diesem aus der Masse herausragenden Individuum zu solidarisieren oder vielmehr sich vor dem Ertrinken an eine helfende Hand zu klammern. Wenn sie sich sofort alles eingestehen würde was ihr in diesem Moment schon zu Füßen gelegt wurde, könnte sie ganz einfach behaupten es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen. Levin stellte sich Luise vor, auf Augenhöhe, und lud sie auf einen Sekt an der Bar ein. Wenn es guten Rotwein gäbe würde sie das Angebot annehmen, denn Sekt trinken doch nur Modebekenner oder Sittenkonforme. Levin musste über diese strenge Boshaftigkeit lächeln, griff ihre Hand und zog sie durch die Berauschten, die ihr, wenn sie sie erkannten zu prosteten. Luise nickte verlegen dankend. Eine Frau winkte Levin so befehlend herüber zu kommen, dass er Luise verzeihend anschaute und sie zu der Dame zog. Die Dame fiel Levin um den Hals und küsste dann Luise ein paar Luftwangenküsse um die Ohren, dass Luise ganz schwindlig in der Parfümwolke wurde. „Sie sind aber auch schwer zu kriegen Kindchen“ sagte die nur wenig ältere Frau zur vielleicht junggebliebenen Gefeierten. Luise zuckte nur mit den Schultern, aber die Frau wandte sich schon an ihren Begleiter: „Nun kannst du dich mit ihr verabreden Charles“ Charles entpuppte sich als Talkmaster einer quirligen Samstagabend Show, in der jeder Wichtigtuer gesehen werden wollte und Luise schwante Unheilvolles. Levin spürte Luises Unbehagen und passte den richtigen Moment ab um den Weg zum Rotwein weiter zu verfolgen. Trotzdem hatte Luise ein verbindliches Date in der Show um dem Hype der um ihren Roman gemacht worden war Rechnung tragen zu können. Ja, so nüchtern empfand sie diesen falschen Ruhm als Person bekultet zu werden ohne dass ihre Aussage auch nur die Chance einer Wirkung zu haben schien. Natürlich gab es ein paar bekloppte Intellektuelle, Althippies, Archäofreaks oder sonstige Versteher mit philologisch-philosophischem oder mediävistischem Hintergrund, aber die hätten ihren Roman nicht gebraucht. Sie wollte doch die Erde und die Menschheit retten und nun feierten sie, weil sie das so schön gesagt hatte. Diese Party war geradezu das Sinnbild des Missverstehens und sie strudelte immer weiter in diesen Gedankentornado, wenn nicht Levin sie unbemerkt in einen Weinkeller geführt hätte. Hier war es kühl und angenehm ruhig, menschenleer und irgendwie verboten. Der Anblick der vielen Flaschen in dem schmucken, aber nicht übertriebenen Weinkeller entwirrte sie sanft aus ihren ärgerlichen Hirngespinsten.

Levin schien sich hier auszukennen. Er nahm Gläser aus einem Schrank, zündete eine Kerze an, öffnete routiniert romantisch eine edel aussehende Rotweinflasche, schenkte den feinen Roten ein und setzte sich seufzend, als habe auch er eine schwierige Wegstrecke endlich hinter sich gebracht. Für eine winzige Zeiteinheit schienen die beiden angekommen oder einen ersten Schritt gemacht zu haben. Ihre Augen berührten einander und instinktiv griffen beide zum Glas um die Gläser klingen zu lassen. Levin schaute aufmerksam ins Glas als könne er mit den Augen der Resonanz des glockenartigen Klangs habhaft werden und lächelte jetzt doch ein wenig verlegen, als habe er erst jetzt bemerkt, was für einen gewagten Schritt er vollzogen habe, diese gefeierte Frau entführt zu haben, ganz für sich alleine.

Prost Luise! und Alles wird gut! meinte Levin wieder richtig zu interpretieren. Mit hochgezogenen Augenbrauen nahm Luise einen ersten Schluck der ihr die Augen befahl genüsslich zu schließen. Levin durchfuhr es bei diesem Anblick der ihn sofort Zurückhaltung mahnte und sein Sitzfleisch tiefer in den Stuhl gebot, sonst wäre er aufgestanden und hätte diese Frau geküsst. Dann aber, so ahnte er, wäre sie unwiederbringlich für ihn verloren, was vielleicht auch völliger Quatsch war, aber er hielt es dennoch für besser sich gegenseitig langsam kennen zu lernen, auch wenn sein Begehren schon jetzt unerträglich zu werden drohte.

Luise nahm einen weiteren erotischen Schluck des fruchtigen Blutes der sie zur Ruhe kommen ließ. Aber neugierig war sie jetzt doch wieso sie sich hier in den Keller des Hauseigentümers zu schleichen gewagt hatten. Levin lachte nur und klärte sie auf, dass es sein Weinkeller war in dem sie saßen. Lachte er über ihre naive Frage und hätte sie wissen müssen wer diese Party schmiss oder war das nur ein Trick um sie auch in irgendeine weitere Präsentation ihres verkannten Werkes zu ziehen?

„Ich habe dich beobachtet und belauscht wie du mit den anderen Gästen diskutiert hast und wollte dich aus den Rechtfertigungsversuchen befreien, die ich meinte gehört zu haben“ gestand Levin und traf wieder ziemlich genau ins Schwarze oder vielleicht auch direkt wie Cupido in des Pudels Kern. Luise sackte bestätigend zusammen und hörte sich weitere Erklärungen an. Levin hielt mit seiner Architekturfirma erfolgreich eine Nische in der Filmbranche besetzt. Neben einer software für alle Raum und Gartengestalter, plante sein Büro nicht nur aufwändige sets, sondern baute sie auch. Die software griff sozusagen in die Ausgestaltung von Drehbüchern ein und lieferte ein herrliches Gesamtpaket für Setbau und Requisite mit möglichst Kontext authentischem Hintergrundwissen. Luise kannte als Gartendesignerin das für sie unerschwingliche und allseits heißbegehrte Programm, das unter Gamedesignern als Geheimtipp galt. Levins Firma hatte also den Film ausgestattet und er selbst interessierte sich als einer der wenigen für den tatsächlichen Inhalt der Geschichte, viel mehr noch aber für die Erfinderin.

„Das also verschafft mir die Ehre in diesem Weinkeller sitzen zu dürfen, beim Fürsten der Architekten!“ Levin versuchte ihre Skepsis zu mindern indem er beteuerte, dass die Ehre ganz auf seiner Seite war. Aber eigentlich sei es weder seinem „Fürstentum“, noch seiner software oder sonst irgendwelchen Privilegien zu verdanken, dass er sie in seinen Keller führen durfte, sondern einer ganz persönlichen Offenbarung, die durch das Titelbild ausgelöst worden war. Als dann das Plakat dieses geheimcodierte Bild an allen Stadtecken so offenkundig versteckt präsentierte musste er sich einfach etwas ausdenken um sie kennen zu lernen. So häufig am Set aufzutauchen war ihm als Firmenchef nicht allzu oft gestattet und dann hatte er es kaum gewagt sie dort zu stören, die so emsig immer bei der Sache zu betrachten war. Aber was, wollte Luise wissen, war denn an dem Plakat so geheimnisvoll und besonders? Zwei Liebende die sich in die Augen schauen wischte sie mit einer schwungvollen Geste das simpel gestaltete Plakat in eine Ecke des Weinkellers. Aber sie war neugierig was Levin jetzt in diese Liebenden hineininterpretieren würde, denn es war ihre Idee gewesen, das unscheinbare Bild vom Cover des Buches wieder zu verwenden, statt irgendwelcher Actionszenen aus dem Film. Der Streit um dieses Thema war lang und nervenzerrend gewesen, aber sie hatte sich durchgesetzt, dabei war es ihr eigentlich völlig schnurz gewesen. Aber ein innerer Drang forderte immer wieder auf dafür zu kämpfen, einfach um zu kämpfen und um sich gegen die langjährigen und filmerfahrenen Herren und Damen der Branche durchzusetzen. Ein dummer kräftezehrender Sieg. „Der sich gelohnt hat!“ kam es spontan aus Levin, sonst hätte ich dich vielleicht gar nicht kennen lernen wollen, fügte er in Gedanken hinzu. Luise sah ihn fragend an. „Die Frau und der Mann auf dem Plakat sind gleich groß und sie schauen sich beide liebend an, auf gleicher Höhe, gleichwertig. Im Hintergrund sieht man all die Dinge die sie gemeinsam vollbringen. Sie müssen sich nicht zusammenraufen, sie unterliegen keinen stereotypen oder bedienen zum tausendsten Mal abgelutschte Klischees. Diese beiden da sind neu und das weißt du. Es ist ein selbstverständliches Detail, das du nicht mit einer Silbe erklärst, es nicht thematisierst, aber es durchzieht den ganzen Roman! Du hast ein neues Bild der Liebenden geschaffen ohne es an die große Glocke zu hängen, ja im Gegenteil, das irre daran ist, dass du es wie ein Selbstverständnis als Grundlage aller Handlungen voraussetzt und damit spielst. Natürlich musstest du für das Plakat kämpfen. Ich kotze, wenn ich diese ewigen Bilder von großen Männern sehe, die ihre etwas kleinere Frau schützend im Arm halten!“ Luise war baff, ja das war ihr Motto, einst, das stand ganz am Anfang und hatte sich in einen utopischen Roman entladen, in dem sie aufzeigte wie schön man die Welt gestalten kann. Zu schön, denn keiner sah wie schlecht die Welt der Menschen eigentlich war. Da war es wieder! Sie dachte immer gleich daran, dass keiner den Roman verstanden hatte. Bis auf Levin etwa? Aber er hatte etwas Anderes gesehen, etwas das ihr einmal sehr wichtig war und das sie aus den Augen verloren hatte, obwohl sie unbewusst dafür gekämpft hatte, blutig wie ihr jetzt schien. Er hatte sie in einem liebevollen Sturm der Begeisterung für seine Entdeckung bis auf ihre Grundfesten durchschaut. „Was denkst du gerade? Ich habe dich doch hoffentlich nicht erschreckt mit meiner Dekodierung?“ Luise schüttelte den Kopf und atmete wieder um ihm das leere Glas entgegen zu strecken. „Du hast recht - das Bild war mir wichtig - ich hatte es nur vergessen - stell dich mal hin!“ Levin stand auf und Luise stellte sich ganz dicht vor ihn um ihm direkt in die Augen zu schauen. Dann trat sie einen Schritt zurück und lachte herzhaft, auf Zehenspitzen balancierend, zu ihm auf. Sie setzte sich wieder und Levin hatte längst verstanden. „Na dann mal Prost auf die Gleichwertigkeit, ich bin gespannt“ waren Luises feierlichen Worte. Sie merkte erst jetzt wie gut dieser Wein schmeckte und lobte ihn. Es fiel nach all diesen tiefgründigen Enthüllungen und Entdeckungen nicht gerade leicht noch weitere Worte zu finden. Aber Levin hatte noch einen anderen Plan in der Hinterhand. Er stand auf um aus einer kleinen Vitrine an der Wand, in der Bücher, vermutlich über Wein, standen um ein dickes und sehr altes Buch heraus zu nehmen. Er setzte sich wieder und reichte es Luise. Er hoffte, dass er mit diesem Geschenk einen weiteren Schritt in seine begehrte Richtung lenken konnte.

Luises Ehrfurcht vor alten Büchern war meistens groß, wenn es nicht irgendwelche antiquierten Dummheiten enthielt, oder die xte Bibel war, obwohl heutzutage sicher mehr Schrott gedruckt wurde als je zuvor.

Ohne Zweifel, dieses Buch wirkte schon von außen mit seinem weichen Ledereinband und der Jahrhundertpatina, seinen platt gestreichelten Relieflettern und dem pulverisierten Goldschnitt so anziehend auf Luise, dass sie sich am liebsten in eine ruhige kuschelige Ecke verzogen hätte um es auf der Stelle genießen zu können. Ihr war nicht entgangen, dass das Buch „Terre Marveile“ hieß. Mit großen Augen sah sie Levin an, der Luise geduldig versuchte zu beobachten. „Ein Erbstück“ meinte er dann „aber es erzählt von einem Land das mich an das Land in deinem Roman so sehr erinnert, und das vor über 1000 Jahren!“ Luise erschrak über diese Zahl und zog ihre Finger zurück, die das Buch gerade öffnen wollten. Instinktiv streckte sie Levin das Buch wieder entgegen, aber der winkte ab, verschränkte die Arme und sagte nur: „Ich würde mich nicht nur freuen, wenn dieses kleine Geschenk dir Freude macht, sondern würde mich umso glücklicher schätzen, wenn wir uns über das Thema der Utopie austauschen könnten“ forderte Levin „in diesem Buch lebt genau das was du in deinem Werk forderst oder auch beschreibst und ich glaube. Der eigentliche Knaller aber ist: es existiert wirklich, dieses Land! Viele Anzeichen deuten darauf hin, auch wenn wir offiziell nichts davon wissen. Aber an der Existenz von Troja haben ja auch die meisten gezweifelt und es in die Welt der Sagen verbannt.“

„Naja, stell dir vor, jemand liest in 500 Jahren mein Buch und glaubt dieses Land gibt es wirklich, er wird enttäuscht sein es nicht finden zu können, ok, obwohl es natürlich metaphorisch auch die innere Landschaft und Haltung eines jeden individuellen Menschen bedeutet.“ Und schon war Luise gefangen in ihrem Lieblingsthema, so wie sie es immer gerne gehabt hätte, als Austausch und nicht als ewiges zänkisches Kontra. Ihr Werk, und er nannte es Werk, nicht Bestseller oder Roman, nein Werk, wurde hier ernst genommen!

Ihre Körperhaltung hatte sich weiter gelockert und sie lechzte schier nach weiteren Worten.

„Ich möchte eine Expedition zu diesem Land machen und dich bitten mit zu kommen!“ Er musste jetzt schon diesen Überfall wagen, denn Luise schien ihm letztlich offen genug für diesen Wahnsinn. Jemand, der eine solch heikle Geschichte zu einem Besteller verarbeiten kann und dann auch noch ein erfolgreiches Drehbuch aus dem Handgelenk zaubert und ansonsten auch noch aus der Landwirtschaft kommt - und hey, soviel Levin wusste war Luise ledig und frei - wer sonst sollte prädestinierter sein, eine solche Idee mit ihm zu verwirklichen?

„Wow, ich weiß nicht“ schreckte Luise zurück, das Buch nun aber doch umklammernd, wie einen kleinen Schatz, was es ja auch war.

„Lies doch erst einmal das Buch und dann präsentiere ich dir meine derzeitigen Recherchen - es gibt Indizien!“

Er schenkte sich und Luise Wein nach, lehnte sich genüsslich zurück und beobachtete wie sie weiter locker wurde. Er hatte den nötigen Reiz geschaffen und spürte, dass er ihr nicht missfiel. Und seine total spontane und zugegebener Maßen völlig ausgeflippte Idee ein utopisches Land aus einem antiken Buch zu finden, nur um eine Frau zu erobern, ließ ihn kurz schaudern. Aber dieses Abenteuer hatte er sich soeben selbst ins Herz gerammt oder spann Amor absurde Liebeshändel mit ihm? Egal, er war dieser konsumgeilen und rücksichtslosen Welt überdrüssig und das war der eitrige Stachel, der sich immer tiefer in gesundes Fleisch bohrte, den er auch bei Luise sah. Ihr Buch beschrieb die Verantwortungslosigkeit der Menschen, die nicht nur Raubbau, bzw. völlige Zerstörung der Erde, betrieben, sondern auch und vor allem mit ihrer Seele. Die eigentlich feinsinnig gesponnene Liebesgeschichte klagte mit tiefer Traurigkeit und brutalem Aufreißen aller Wunden den Untergang des kostbaren Paradieses an. Am Ende gab es Einsicht, Versöhnung, Liebe und Heil. Na dann, sagte sich das Publikum, können wir ja weiter feiern. So blieben Geschichten eben Geschichten und bescherten Hohn, Lob oder landeten in Bestsellerlisten, wo es meist nur Ehre zu gewinnen gab. Zu weit entfernt war man vom Zauber des Lagerfeuers, oder Familienofens an dem die Geschichten noch selbst erlebt und umgesetzt wurden und waren sie noch so symbolisch, sie waren hautnah am Eigentlichen. So dachte Levin, während er Luise anschaute, die ebenfalls nur dasaß und abwechselnd das Buch oder ihn anschaute, als könne sie Gedanken lesen. „Wird es weitere Bestseller geben?“ fragte er dann und Luise zog einmal kurz die Schultern hoch. „Ich würde jetzt gerne mit dir an meinem Kamin sitzen oder draußen im Garten am Feuer und meine Geschichte erzählen.“ „Tja“ meinte Luise „dann musst du wohl die Gäste rausschmeißen.“ 

Levin stand auf und ging aus dem Weinkeller zum Sicherungskasten um die Hauptsicherung aus zu schalten. Mit einer Taschenlampe ging er nach oben um die Gäste zu verabschieden, bzw. raus zu schmeißen. Luise saß weiter im Keller bei Kerzenlicht, trank den roten Wein und widmete sich vorsichtig dem dicken ledernen Buch.

„Terre Marveile“ streifte Luises Daumen die in Leder geprägte und aus letzten Goldresten bestehende Inschrift. Das alte Buch ächzte beim Aufschlagen und ein verstaubter Odem entfuhr dem ersten Blatt. „Terre Marveile - die Geschichte einer Stadt am Rande der Welt“ von Jera Tima. Das klang nach dem Namen einer Frau. Das war doch mal was. Luise forschte weiter und fand ein Datum und wunderte sich erst jetzt, dass alles relativ modernen Buchstaben für sie lesbar war. Verdammt, dass Buch war über 3000 Jahre alt! nicht Tausend. Unmöglich! Aber ja, Troja, ich weiß, auch ganz schön alt. Das Licht ging wieder an und das Buch hatte Luise eindeutig gefangen und sie konnte es kaum erwarten sich in ihr Bett zu verkriechen um es zu studieren aber sie hörte Levins Schritte der sie abholen wollte um sich mit ihr an den Kamin zu setzen. „Ich hatte eigentlich nicht zugesagt, jetzt mitten in der Nacht noch am Kamin zu plaudern“ aber sie konnte Levin Blick nicht widerstehen, der die Kerzen ausblies, die Flasche und sein Glas nahm und Luise mit einer Kopfbewegung und mit den Augen bittend, nicht flehend, einfach nur einladend, nach oben wies.

Vorbei an jede Menge leeren Gläsern, Flaschen und Knabbereien ging es in den Garten zum Lagerfeuer. Sie kuschelten sich in die verdammt bequemen Sessel unter einem lauen Sternenhimmel als würden sie das schon eine ganze Weile so machen. Jedenfalls fühlte Levins Nähe sich vertraut an oder als würde sie plötzlich in einer neuen Freundschaft ungeduldig Schritte überspringen, die man früher rein formal beging, die man aus amerikanischen Filmen kannte, von wegen erstes Date und all die absurden Regeln, die sie schon immer verachtet hatte. Wenn man sich mag, wozu noch Zeit verschwenden mit Äußerlichkeiten. Wenn das innere Wesen schon längst begriffen hatte was es hier zu gewinnen gab und wenn der eventuelle Verlust der Freundschaft schon jetzt schmerzte.

„Wir mögen uns nicht wahr?“ fragte Luise und Levin sah sie nur an und nickte. „Aber das macht es nicht einfacher“ „Ich weiß“ sagte Levin „dein Schmerz sitzt zu tief“ Dass er wirklich alles wusste war zu viel für Luise und einmal mehr wünschte sie sich ihr Bett sehnlichst herbei um zu heulen - das Lesen musste warten. Wenn er jetzt ihre Hand nähme wäre es um sie geschehen, aber er war taktvoll, er wusste wirklich und er hatte sie vielleicht beobachtet, ihr regelrecht die Seele ausspioniert.

„Ich habe dein Buch gelesen und dein Drehbuch analysiert - das ist nicht alles nur unsere software. Aber ich will das nicht ausnutzen - ich will nur zu verstehen geben, dass ich meine verstanden zu haben“

Ja was wollte sie, verstanden werden oder in Ruhe gelassen? Sie nahm einen Schluck von dem köstlichen Rotwein und fragte nach der versprochenen Geschichte.

Levin lehnte sich gemütlich in die Kissen, viel zu weit weg von ihr, in einem eigenen Sessel.

 

Kapitel 2 Gartenarbeit

 

Luise hörte es noch in ihrem Ohr, dass nur, weil sie jetzt als Bestseller und Newcomer gefeiert wurde, könne sie ihre Aufträge nicht schleifen lassen. Die Auftraggeberin war die einzige dieses Jahr gewesen und durch die ganze Filmgeschichte kam die schönste Arbeit der Welt zu kurz. Sie hätte den Auftrag von vorne herein ablehnen sollen. Der handgemalte, liebevolle Entwurf hatte der Frau aber gefallen und sie wollte partout von Luise einen renaturierten Stadtgarten. Die Zeiten änderten sich und man brauche ja vielleicht etwas zu Essen, wenn es schlimmer würde und dann gäbe es auch für Geld kein Futter mehr, behauptete die Frau. Kleine Paradiese schaffen, das konnte sie jetzt auch mit Worten, die wieder zu Bildern geworden waren. Luise gab paradiesische Selbstversorgerkurse - alles aus einem Guss - fast wie bei Levin, sie dachte an Levin! nur viel einfacher, bodenständiger, direkter, von ihr persönlich, handgemalt, zum Kunden. Damit ließ sich viel Ehre aber doch wenig Geld verdienen. Das mit dem Geld war immer schon eine blöde schwierige Sache und so entschloss sich Luise eines Tages im Winter einen Bestseller zu schreiben. Das war die Vorhabe. Alles was sie nervte und ärgerte und was sie sonst noch schlimm fand in der Welt der Menschen wurde in diesen Roman gepackt - aber auch alles was sie liebte und was es wert war zu leben und zu lieben - das war ihr Werk. Ein rundherum liebevolles und positives Werk - mit gutem Beispiel voran und so. Das Buch war weder platt noch weichzeichnend noch Friede Freude Eierkuchen, sondern eine echte Utopie. Es malte ein echtes und schwierig zu erlangendes Paradies, das am Ende aber durchaus gelang. Vielleicht war ihr Glauben an Arbeit, Mühsal und Schweiß ihr einfach viel zu oft im Weg. Und jetzt hatte sie Geld ohne glücklich oder befriedigt zu sein, denn das war das übliche Klischee - Geld macht nicht glücklich. Einsamer denn je und enttäuschter denn je machten sie ihre Worte, die sie der Welt geschenkt hatte. Das Ziel war erreicht, der Roman heißbegehrt, aber Luise hatte vergessen sich auch zu wünschen, dass ihre Worte noch eine andere Resonanz fanden. Immerhin hatten sie Levin gefunden, ihre Worte und ihr Bild!

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